
„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Gen 16,13
Liebe Leserin, lieber Leser,
mit der Jahreslosung für das kommende Jahr begleitet uns das erste Mal das Wort einer biblischen Frau. Und was für einer noch dazu! Keine berühmte Gestalt wie Maria oder Königin Esther, sondern eine Sklavin wird hier zitiert, eine Sklavin, eine Ausländerin. Hagars Geschichte ist die einer ungewollten, ständig schlecht behandelten und für minderwertig erachteten Frau, die von den mächtigeren Akteuren der Geschichte missbraucht und hin und her-geschoben wird, wie es denen gerade in den Kram passt.
Die Sklavin wird schwanger Eigentlich Ägypterin, arbeitet sie als Dienerin für Sarah, die Frau des reichen Nomaden Abraham im fremden Land Kanaan. Obwohl Gott Sarah ein Kind versprochen hat, wird sie nicht schwanger. Verzweifelt überredet sie ihren Mann zu dem Mittel, das damals üblich war, wenn man kinderlos blieb: Sie gibt ihm ihre Sklavin, die im rechtlichen Sinn nicht als Person gilt. Ihr Kind wird deshalb als Sarahs Kind gelten. So muss Hagar mit Abraham schlafen, und sie wird auch schwanger. Doch mit Hagars Bauch wächst auch Sarahs Eifersucht und Verzweiflung. Sie ist wütend auf ihre Sklavin, die ihr jeden Tag vor Augen führt, was sie nicht haben kann und behandelt Hagar so schlecht, dass diese sich schließlich nicht anders zu helfen weiß und wegläuft.
Hagar irrt dann schwanger durch die Wüste und rastet schließlich an einer Wasserquelle. Sie ist zwar ihren Unterdrückern entkommen, nun aber rechtlos und schutzlos in einer lebensfeindlichen Umgebung, allein und ausgeliefert. Hier nun „findet“ Gott sie, so heißt es wörtlich.
Gott sieht die Sklavin Als wäre Gott ihr nachgegangen, um sie zu suchen. Er ermutigt sie, wieder zu Abraham zurückzukehren und gibt ihr, damit sie die innere Stärke dafür aufbringt, ein Ver-sprechen. Er verheißt ihr einen Sohn, der der Vater eines großen Volkes werden soll: Er gibt ihm auch einen Namen: „Ismael“ – „Gott hört“. Und Hagar reagiert, indem sie Gott einen Namen gibt: „El Roi“ oder auch „Du bist ein Gott, der mich sieht.“
Hagar, die sonst von niemandem gesehen wird, geschweige denn in irgendeiner Form wertgeschätzt wird, macht die erstaunliche Erfahrung, dass der Gott ihres Herrn sich auf ihre Seite schlägt. Er geht ihr nach, er spricht zu ihr, er gibt ihr ein großes Versprechen. Er sieht sie.
Gottesbegegnung ermutigt Die Erfahrung, die Hagar macht, ist so alt, wie die Menschheit selbst und hat doch nichts an ihrer Aktualität eingebüßt. Ob wir uns selbst in Hagar wiederfinden, ihre Verzweiflung spüren, uns wie sie ratlos und machtlos fühlen, am Boden und orientierungslos; ob wir uns wie sie fragen: ist da irgendwer, der mich sieht? Irgendjemand, dem mein Schicksal etwas bedeutet? Oder ob wir auf der anderen Seite stehen, eigentlich das Gute gewollt haben, aber Macht und Konventionen uns den Weg dorthin geebnet haben, dass wir andere für unsere Sehnsüchte und unseren Egoismus ausgenutzt haben: Hagar berührt. Und ihre Gottesbegegnung macht Mut.
Denn der Gott, der Hagar begegnet ist, ist auch der Gott, der mich heute und dieses kommende Jahr begleiten wird. Es ist „El Roi“, der Gott, der mich sieht. Es ist der Gott, der Hagar, die Sklavin, die scheinbar Unwichtige und Wertlose, an ihrem Lebenstiefpunkt suchte und ihr genau das gab, was sie brauchte, damit sie weitermachen konnte. Dieser Gott wird mir in gleicher Weise treu sein. Wir wissen nicht, was das Jahr für uns bereithalten wird, doch wir können uns darauf verlassen, dass Gott uns finden wird, ob es uns in die Wüste verschlägt oder ob wir in unserer persönlichen Oase bleiben. Für ihn sind wir unübersehbar.
Ihre Pfarrerin Ramona Rohnstock